Dirk von Lowtzow (Tocotronic) im Interview (Plastic Bomb #118)
Als ich im Januar 2022 den Sänger von Tocotronic interviewen durfte, war noch niemandem klar, wie traurig aktuell der Titel ihres Albums „Nie wieder Krieg“ einen Monat später werden sollte. Dieses Interview erschien in der Plastic Bomb Nr. 118 im Frühjahr
Lieber Dirk, wann wurdest du zuletzt von einem Punk-Fanzine interviewt?
(Überlegt) Oh, dass weiß ich nicht. Ich glaube, wir als Band zuletzt im Ox. Ich glaube aber, dass ich bei dem Interview nicht dabei war. Das haben unser Gitarrist Rick und unser Bassist Jan gemacht. Und sonst? Was würdest du und Punk-Fanzine verstehen? Das Trust zum Beispiel? So wahnsinnig viele gibt es da ja gar nicht mehr. Bestimmt haben wir das zwischendurch immer mal wieder gemacht. Nur kann ich mich nicht so unmittelbar daran erinnern. Ich habe da zumindest keine Berührungsängste.
Du hast ja auch eine gewisse Punksozialisation. Ich wollte mit der Frage auch gar nicht suggerieren, dass das völlig abwegig wäre.
Ja klar, wir alle bei Tocotronic haben diese Sozialisation. Bei Jan, unserem Schlagzeuger Arne und mir kann ich das mit absoluter Bestimmtheit sagen. Bei Rick bin ich mir gar nicht so sicher. Aber wir sind alle Punk- und Hardcore-sozialisiert. Ich war mit 16, 17 ein Riesen Hardcore- und Post-Hardcore-Fan. Alles, was von SST rüber geschwappt ist, fand ich toll, aber auch viele klassische Hardcore-Bands. Amerikanischer Hardcore hat mich total geprägt.
Du hast mal gesagt, dass dein Vegetarismus etwas ist, was du aus dieser Punk- und Hardcore-Zeit sozusagen rüber gerettet hast. Das ist finde ich ganz spannend, so als Analogie zum Punk, der ja wie Vegetarismus auch sehr im Mainstream angekommen ist. Ist das eine gute oder schlechte Entwicklung, wenn so etwas in den Mainstream kommt?
Ich habe das vor dem Hintergrund der Frage erzählt, wie das Weltgeschehen mich beeinflusst und wie das Leben die Kunst beeinflusst und umgekehrt die Kunst das Leben. Damals, als ich in der Kleinstadt aufgewachsen bin, waren die Nachrichten aus der großen weiten Welt für mich die Fanzines, die in den Briefkasten meiner Eltern eingetrudelt sind: Trust und Zap. Mitte und Ende der 80er Jahre waren das sehr große Themen: Vegetarismus, Straight Edge und so. Das wurde ja auch sehr diskutiert. Richtiger Punk mit Bier und Schnaps versus Hardcore-Straight-Edge-Vegetarismus und so. Und ich war eben Hardcore-Fan. In der Hinsicht hat es mein Leben dahingehend beeinflusst, dass ich auch von einen Tag auf den anderen kein Fleisch mehr essen wollte. Und dabei bin ich bis heute geblieben. Die Gründe waren damals andere. Meines Wissens war der Klimawandel oder die Klimakatastrophe damals noch kein Thema, sondern es ging hauptsächlich um das Tierwohl. Viele dieser Bewegungen waren an die Tierrechtsbewegung gekoppelt. PETA gab es da und Anti-Pelz-Initiativen. Das war tief in dieser Punk- und Hardcore-Szene verwurzelt.
Und ich meine im Fall Vegetarismus: natürlich wäre das gut, wenn noch viel mehr Leute Vegetarier werden und wenn es noch mehr Mainstream werden würde. Für das Weltklima im wahrsten Sinne des Wortes wäre das natürlich gut, weil man ja weiß, was für einen hohen Anteil die fleischverarbeitende Industrie an den CO2-Emissionen hat. Abgesehen davon, dass die Fleischindustrie total tierverachtend ist. Deshalb ist das nichts, von dem ich sagen würde, dass ich es nicht gut fände, wenn es Mainstream wird. Ist ja nichts, was man für sich behalten sollte. Aber es sehr schwer durchsetzbar. Für viele Menschen ist Fleischkonsum unverzichtbar. Und es hat ja schon allein sehr lange gedauert, bis man im Bordbistro des ICE mal ein vegetarisches Gericht bekommen hat. Das ist noch nicht so lange her, dass es das überhaupt gibt. Da ist Deutschland ja im Gegensatz England sehr weit zurück.
Gibt es sonst noch etwas, was du dir aus dieser Zeit in dein heutiges Leben herübergerettet hast?
Viele unserer Songs sind ja auch heute noch eindeutig Punk oder Hardcore, oder wie auch immer man das nennen mag, beeinflusst. Das hängt natürlich an der Definition. Ein Stück des neuen Albums heißt „Komm mit in meine freie Welt“ und ist fast schon eine Hommage an Bands wie Hüsker Dü. Der Refrain erinnert auch nicht umsonst auch ein bisschen an „I don’t wanna know if you are lonely“ von der Candy Apple Grey. Da würde ich sagen, dass es ein klassisches Alternative Punk-Stück ist. Die Übergänge sind da ja fließend. Aber auf jeden Fall ein Stück, was sehr an diese Zeit erinnert vom Sound und der Art her. Auch der Art der Aufnahme und der Spielweise.
Euer 13. Studioalbum erscheint jetzt Ende Januar. Es gab ja einen recht langen Vorlauf. Es gab ja im April 2020 mit „Hoffnung“ meines Wissens nach den allerersten Corona-Song. Hat diese Krise den weiteren Entstehungsprozess beeinflusst?
Eigentlich nicht, denn alle Stücke wurden schon weit vor dem Ausbruch der ersten Corona-Welle geschrieben. Das meiste Material stammt von Mitte 2018 und 2019. Da haben wir angefangen, die Stücke zu skizzieren, einzuproben und zu arrangieren. Die Pandemie hat es nur insofern beeinflusst, dass wir eigentlich genau zum Zeitpunkt des ersten Lockdowns ins Studio gegangen wären. Das ging dann nicht. Das Studio hat für drei Monate zugemacht. Wir waren dann Anfang oder Mitte Juli im Studio. Für uns war das erstmal fast ein bisschen Glück im Unglück, weil wir ein bisschen Zeit gewonnen haben. Man ist als Band ja auch oft in Zeitfenster eingepresst. Das Studio ist gebucht und danach gibt es schon Folgebuchungen oder unser Produzent Moses Schneider ist viel beschäftigt und so weiter und sofort. Allerhand organisatorischer Krimskrams. Uns hat Corona ein bisschen Zeit geschenkt. Zwischen April und Anfang Juli, als wir im Studio waren, konnten wir noch intensiver an den Stücken arbeiten, ein paar Feinheiten rausarbeiten und noch ein paar Schräubchen hier und da drehen. Das fand ich eigentlich ganz schön – Auch gerade in dieser Lockdown-Zeit. Diese Feinjustierung. Man konnte sich so Ideen und Veränderungsvorschläge hin- und her mailen. Als wir dann tatsächlich ins Studio gegangen sind, hat es sich wie eine Befreiung angefühlt. Dann war Sommer und nach diesem dunklen Frühjahr und diesen diversen Lockdowns hatte man einfach das Gefühl, dass das ein karthasischer Moment ist, wenn man tatsächlich diese Album einspielt, auf das man so lange hingearbeitet hat. Insofern würde ich sagen: Ja und nein. Das Songmaterial, die Texte und die reinen Songs nicht. Das hat damit gar nichts zu tun. Aber natürlich für die weitere Produktion des Albums hats schon eine Rolle gespielt. Und dann würde ich sagen, im Nachhinein hat es eine große Rolle gespielt, weil das Album um diese Zeit letztes Jahr komplett fertig war, also fertig abgemischt und fertig gemastert. Da kam das fertig gemasterte Material aus New York von Sterling Sound, Und dann war das für uns so: Wow, dass ist jetzt endlich fertig? Wir dachten auch daran, dass Album früher zu veröffentlichen, aber das ging dann eben irgendeiner Welle nicht mehr, weil man nicht auf Tour hätte gehen können. Und in der Zeit hatte ich das Gefühl, hat das Material vielleicht so ein bisschen die Stimmung dieser Corona-Zeit noch in sich aufgesogen, ohne dass man was dafür tun musste, weil sich der Blickwinkel auf manche Songs geändert hat. Und so zum Beispiel auch das Hoffnung-Stück, was eigentlich ein ganz persönliches Stück über Einsamkeit und Vereinzelung und über Musik als solches ist. Da kommen ja dauernd so autothematische Begriffe wie Lyric, Song, Music und so weiter vor. Das hat natürlich durch die Corona-Pandemie noch einmal einen ganz neuen Aspekt hinzugewonnen.
Du hast es ja schon gesagt: Man ist als Band ja schon ein bisschen drauf angewiesen, dass man recht zeitnah zur Veröffentlichung des Programms touren kann. Seid ihr denn optimistisch…
Du, dass charakterisiert eigentlich das Wechselbad der Gefühle, dem man als Musiker dieser Zeit ausgesetzt ist, ziemlich gut. Hätten wir beiden Hübschen dieses Interview vor zwei Wochen geführt, dann hätte ich gesagt: Klar, alles ist super und wir gehen auf Tour und unser Album kommt raus. Da war die Stimmung noch eine ganz andere. Leute, die weiter vorausgeblickt haben, deren Stimmen leider nicht gehört wurden, haben schon Ähnliches prognostiziert. Aber man selbst verdrängt es natürlich ein bisschen. Jetzt sieht man sich wieder einer ganz anderen Zukunft gegenüber und in der Tat weiß man nicht, ob das alles stattfinden kann. Das Album wird erscheinen. Das kann man nicht mehr rückgängig machen. Ob man touren kann: I don’t know! Keiner weiß das. Wir sind immer im Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen. Ich habe vorgestern mit meiner Kollegin und Freundin Sophie Hunger telefoniert. Die hat jetzt alle Termine abgesagt und so weiter. Man kann nur auf Sicht fahren, wie man so schön sagt.
In dieser ganzen Zeit waren deine Mitmusiker ja sehr beschäftigt mit Podcasts, mit Comics oder mit anderen Bands. Was hast du neben dem Album auch noch gemacht?
Na, ich war mit dem Album schon sehr viel beschäftigt, weil ich eigentlich den ganzen Produktionsprozess von der ersten Skizze bis zum Ende komplett begleitet habe. Und ich habe zwischendurch auch für mich geschrieben für ein noch zu erscheinendes literarisches Projekt. Das habe ich so für mich gemacht.
Was du geschrieben hast, wird noch nicht verraten, denke ich?
Das ist noch ein bisschen in der Zukunft. Da machen wir dann ein eigenes Interview zu. (lacht)
Das erste, was mit beim Hören des Albums „Nie wieder Krieg“ aufgefallen ist, dass ihr auch wieder diesen unterschwelligen, sehr eigenen Tocotronic-Humor habt. Das jemand auf einer Raststättentoilette „Nie wieder Krieg“ in einen Spiegel schreit, oder die Unmöglichkeit des Pizzabelegens. Du hast es ja schon gerade beschrieben, dass es als Musikerin oder Musiker derzeit nicht so leicht ist. Ist euch der Humor dementsprechend schwerer gefallen?
Wie schon gesagt sind die Songs wesentlich vor Corona entstanden, zumindest so weit, dass man das noch nicht hat ahnen können. Vielleicht tragen die Stücke so eine gewisse Ahnung an diese komische Zeit in sich, gerade wenn man über Tiefkühlpizza nachdenkt und über sowas ähnliches. Also ich will nicht ausschließen, dass man da schon so ganz minimal Nostradamusfähigkeiten bewiesen hat. Sonst kann ich auch nur sagen ich finde das sehr schön, wie du das gerade herausgearbeitet hast, gerade auch bei „Nie wieder Krieg“: Viele der Situationen, die wir beschreiben, sind so ein bisschen absurd. Das Tragische wird erst durch das Komische so richtig tragisch, genau so wie das Komische nur durch das Tragische richtig komisch wird. Das ist ein Aspekt bei uns, der uns persönlich sehr wichtig ist, dass es da Humor gibt. Der wird oft in unserer Rezeption übersehen, habe ich das Gefühl. Vieles ist Witz! Viele Ideen sind Witzen geschuldet oder vieles hat mit Lachen zu tun bei uns.
Ich möchte es jetzt nicht zu sehr konstruieren, aber vielleicht das doch ein kleines bisschen dein Funpunk-Einfluss durch die Goldenen Zitronen, der ja auch subtiler ist, als vielleicht bei den Abstürzenden Brieftauben.
Ja, kann schon sein. Ich glaube, ich habe mir mit 13 oder 14 die erste Single der Ärzte gekauft, als sie rauskam. Und die erste Goldenen Zitronen-Single „Doris ist in der Gang.“ Klar, wenn man in deutscher Sprache textet, braucht es einen gewissen Witz, finde ich. Es braucht ein Schanier und es braucht einen Kipppunkt, oder anders gesagt: Die Songs müssen anfangen zu schillern, damit man nie so genau weiß, ob es jetzt eine Tragödie oder ob es eine Komödie ist. Und das ist vielleicht der frühem Funpunkbildung geschuldet. Das kann schon durchaus sein.
Auf der anderen Seite gibt es ja auch bei euch sehr viele Parolen, die mir als Deutschpunkfan sehr gut gefallen. „Nie wieder Krieg“ haben wir bereits mehrfach genannt, „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ oder „Unter dem Pflaster liegt nur Sand“, um nur einige zu nennen. Das ist ja in Indierock, der zumindest in meiner Wahrnehmung oft sehr verklausuliert daherkommt, sehr selten. Habt ihr da so ein Alleinstellungsmerkmal?
Also wir gehen sehr oft von Titeln aus. Das haben wir von Anfang an so getan. Uns hat das immer interessiert, wie man sich Songs über Titel im Schreibprozess erschließt. Es gibt nicht wenige Lieder von uns, die zuerst einen Titel hatten und dann entstand der Song. Manchmal hat der Song selber mit dem Titel gar nicht so viel zu tun und er taucht dann nur noch einmal im Refrain auf. Mir persönlich gefällt das sehr gut. Ich mag starke Titel. Und ja, möglicherweise stimmt das und es hat was mit Deutschpunk zu tun. Arne und Jan sind ja sehr große Deutschpunkfans und kennen sich da auch tierisch gut aus. Ich nicht so. Ich muss sagen, ich habe nie viel Deutschpunk gehört, außer Funpunk, also Ärzte und Goldene Zitronen und so. Aber mir scheint, auch da gibt es sehr starke Titel, auch dieses martialische und Slogan-hafte. Insofern ja, vielleicht kommt das auch ein bisschen daher, dass das so aus unserer frühen Zeit, als wir uns so zusammengefunden haben, vielleicht kommt das auch so aus Gesprächen, die wir so geführt haben und über deren musikalischen Vorlieben.
Ihr seid ja auch durchaus eine politische Band. Das spiegelt sich in sowas ja auch wieder?
(Überlegt)… Ja, das Interessante in dem Zusammenhang ist sich zu fragen, was politisch eigentlich heißt. Und für mich persönlich ist es so: Wir sammeln Themen ein. Themen kommen irgendwie zu uns und aus dem basteln wir so musikalische Mikro-Lebensdramen. In jedem Leben spielt sich unweigerlich auch was Politisches ab. Und das kann man gar nicht aus dem Leben herauslösen. Insofern finde ich das vollkommen richtig, wenn man sagt, wir sind auch eine politische Band, aber jetzt nicht per se. Wir sind, wie ich finde glücklicherweise, auch noch mehr als das. Weil nur eine politische Band zu sein, wäre mir zu wenig.
Eine wirkliche politische Band wären für dich dann sowas wie die BOTs oder Liedermacher, oder muss ich das verstehen?
Also ich kann hier mal über meinen Schatten springen und sagen: Ich kann Politrock nicht ausstehen!
Nicht einmal Ton Steine Scherben?
Ehrlich gesagt nicht. Nicht mal Ton Steine Scherben mag ich so richtig gern. Das hat aber auch wirklich mit meiner musikalischen Prägung zu tun. Ich glaub das ganz typisch für Leute, die in der Provinz und in Kleinstädten aufwachsen: Ich habe mich so gesehnt nach diesen großen Popmetropolen New York oder London oder so. Deshalb habe ich mich eigentlich immer nur für englischsprachige Musik interessiert und nicht so stark für deutschsprachige. Also Ton Steine Scherben sind eine phantastische Band, da kann man überhaupt nichts gegen sagen, aber mir haben die nie so wahnsinnig viel bedeutet. Sie sind vielleicht auch eines der wenigen Beispiele, wo dieses Politische, aber auch das Ästhetische und das Persönliche so sehr gut zusammengehen und trotzdem werden sie immer als Politrockband bezeichnet. Ich finde, ihre schönsten Lieder sind die, die persönlicher sind. Aber ich habe überhaupt nichts gegen das Politische. Es ist sehr schwer und sehr komplex darüber zu reden. Ich finde, dass gehört da auch auf jeden Fall mit rein und ich finde auch, das hat mit uns was zu tun. Das äußert sich auch oft in der Form wie man Dinge aufeinander clashen lässt oder was die Stücke in sich für einen Widerstreit haben. Das find ich alles total interessant und natürlich auch diese Parolen, die sich vielleicht auch selber ad absurdum führen und so.
Zumindest als Einzelpersonen unterstützt ihr ja auch viele politische Projekte.
Ja, natürlich! Wir sind alle vier politisch äußerst interessiert und bei allem, was wir tun, spielen auch immer politische Kriterien mit rein, ob man etwas macht oder ob man etwas nicht macht. Wie kommen beispielsweise Personen in Stücken vor? Sind das dann Frauen, könnten es auch Männer sein? Ist es irgendwie deutungsoffen, wenn es ein Liebeslied ist? Ist es ein heterosexuelles oder ein homosexuelles Liebeslied und dass man Frauen in diesen Liedern nicht objektifiziert oder gar umbringt. Meistens sind es ja in Popsongs Frauen, weil Popsongs eigentlich ja ein einziges Metoo sind. Auch das kommt in Popsongs vor und das sind natürlich politische Entscheidungen, die die ästhetische Arbeit beeinflussen, wenn man sagt: Das möchten wir nicht in unseren Songs. Das kommt glaube ich auch noch so aus dieser Hardcore-Political Correctness-Nummer oder ab Mitte der Neunziger Jahre durch sowas wie Riot Grrrl und damit auch queerfeministische Theorie und so weiter. Und das prägt einen natürlich und das prägt auch ästhetische Entscheidungen. Und als Einzelperson sowie als Band unterstützen wir natürlich Organisationen wie jetzt schon sehr lange Pro Asyl. Ich war Pate für die Aktionswochen gegen Antisemitismus bei der Amadeu Antonio-Stiftung, das ist ganz wichtig. Aber ich meine jetzt wirklich die reine musikalische Arbeit als Band: Da wäre es mir, wenn es nur politisch wäre zu wenig.
Ich finde das ganz interessant, dass du das gerade mit der Genderneutralität sagst: Nun habt ihr zum ersten Mal mit dem Lied „Ich tauche auf“ ein Duett aufgenommen in der klassischen Mann-Frau-Konstellation. Brecht ihr das damit nicht auch ein bisschen auf?
Das Lied wurde nicht als Duett geschrieben. Der Songtext ist kein Libretto für zwei verteilte Stimmen im Sinne von „Hier spricht der Mann, dort spricht die Frau.“ Er kann alles sein. Es kann auch nur eine Person singen. Es ist nicht in dieser Dualität Mann-Frau gedacht gewesen. Aber es war uns ziemlich schnell klar: Wenn man das als Duett machen würden wollen, dann mit niemand anderem als mit Soap&Skin zusammen, weil wir sie sehr verehren und weil wir uns auch kennen. Und es war wirklich eine große Freude und Ehre, dass Anja Plaschg sich bereiterklärt hat, dieses Stück mit uns zu singen und im Video mit uns zu spielen. Und da gebe ich dir recht: Das ist in der Verbildlichung etwas Mann-Frau-mäßiger. Das liegt aber eigentlich an der Wirkung der beiden Stimmen. Wir wollen unbedingt ihre Stimme, es ging nicht darum, irgendeine Frau singen zu lassen (lacht). Es ging uns wirklich um sie und ihre Kunst und ihre Art Dinge zu singen.
Du hast es ja auch gesagt: Riot Grrl war für euch sehr prägend. Erst seit ein paar Jahren gibt es in Deutschland vermehrt feministische Diskussionen im Punk, in den 90ern hat es aber kaum Spuren in der Szene hinterlassen. Wie bist du damals darauf aufmerksam geworden?
Ich habe das vor allen über amerikanische Bands wahrgenommen, vor allem Bikini Kill und Team Dresch. Denen haben wir auch ein Stück gewidmet. Das war vielleicht weniger Riot Grrl, sondern das war eher Queercore, weil die corerigere Einflüsse hatten. Für mich war es eine Offenbarung, so etwas zu hören, vor allem bei Team Dresch so eine unglaublich geile Band war. Und gleichzeitig kam dann eben die ersten Übersetzungen von feministischen und popkulturellen Texten von Bell Hooks und anderen. Ich fand, da gabs keinen Mangel, aber in der deutschen Bandkultur ist das nicht so angekommen und wenn dann vielleicht so im Underground. Dann kannte ich es vielleicht nicht so. Und in Deutschland kommen Sachen immer spät an und es braucht seine Zeit, bis es verdaut wird. Da sind England und Amerika immer so ein bisschen weiter vorne.
Ein Thema, was sich auch durch euer Werk zieht, ist das Thema Jugend. Jetzt gibt es eure band schon seit über 25 Jahren. Wie hat sich das Verhältnis dazu verändert, weil es ja – Stichwort „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ – immer wieder mal auftaucht. Es ist ja sehr präsent.
Stimmt. Aber warum ist das eigentlich so? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es irgendwie einfach geil, oder? (lacht). „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ ist eigentlich eine Huldigung an junge Menschen, denen ich so begegne, wenn ich so rumlaufe oder spazieren gehe, die herumdriften, vor allem so im Grenzgebiet Kreuzberg/Neukölln. Bei denen habe ich das Gefühl habe, sie sind Großstadtkids, die etwas lost sind, aber gleichzeitig auch total frei. Und natürlich sind sie nicht von irgendeiner patriarchalen Ordnung wie Gott bestimmt. Und dann sind sie wahrscheinlich auch Antifaschistinnen. Für mich ist es eigentlich so ein Lied denen zu Ehren. Als Beobachter find ich die ganz toll. Ich find nix schlimmer als Menschen, die so wie wir als Band um die 50 sind und dann eben sagen „Früher war alles besser und alle waren politischer. Und wir waren ja noch…“ Das finde ich überhaupt nicht. Deswegen soll das so eine Lobhudelei auf diese Leute sein. Du hast jetzt gerade gesagt: Du bist jetzt 50. Es ist also kein Ausdruck dessen, dass du selbst lieber wieder jünger wärst? Nein, überhaupt nicht. Das ist mir ehrlich gesagt total fremd. Ich bin auf eine Art schon alt geboren und gleichzeitig fühle ich mich immer total jung. Bis auf die irgendwann einsetzenden Rückenschmerzen, auf die ich verzichten kann, finde ich das Altern eigentlich einen ganz schönen und interessanten Vorgang. Was passiert mit einem und wie verändert sich das denken? Ich trauere eigentlich meiner Jugend nicht nach, aber ich finde junge Menschen irgendwie toll. Ich freue mich an denen. Spannend fand ich besonders dieses Lied „Nachtflug“ auf eurem Album. Ihr erwähnt ja sehr explizit Orte in Berlin und das Nachtleben. Das ruht ja seit einiger Zeit. Geht es auch ein bisschen darum? Nein, es geht eigentlich um eine Psychogeographie von Berlin und dort gibt es sowas wie Ostkreuz oder die Siegessäule. Also das verbindet sozusagen Punkte in Berlin wie so eine imaginäre Landkarte. Eigentlich ist es ein Stück über Alkoholismus, würde ich sagen. Es geht darum, wie jemand die Stadt wahrnimmt, der ausgeht und dabei Alkohol konsumiert. Der hat immer das Gefühl, er fliegt über oder durch diese Stadt. Das ist natürlich ein tolles Gefühl, aber gleichzeitig auch sehr gefährlich. Ich würde sagen, „Nachtflug“ hat sehr viel mit Alkoholismus zu tun. In älteren Interviews stand früher zu lesen, dass ihr ja früher ganz gut gesoffen, dass aber inzwischen eingestellt habt. Spiegelt sich das da auch wieder? Ich kann jetzt nur von mir sprechen, aber ich würde das bestätigen. Ich würde mich als sehr alkoholgefährdet charakterisieren und das hat mit Sicherheit mit dem Trinkverhalten zu tun, welches man sich über Jahre hinweg antrainiert hat. Speziell ich habe immer sehr viel getrunken. Vor allem im musikalischen Kontext und bei Konzerten, um gewisse Ängste oder Nervositäten und Unsicherheiten zu überspielen. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich das ändern muss, weil das ein gewisses Problem darstellt. Ich glaube, dass keinen viele Musikerinnen das Problem. Es gibt ja diesen schönen Musiker-One-Liner: Gehen zwei Musiker an einer Kneipe vorbei. Ich glaube, das spiegelt sich da auf jeden Fall wieder, auch weil diese Platte sehr viele dieser persönlichen Verletzlichkeiten und Krisen wiederspiegelt. Für mich war das sehr bestimmend, diese Frage: Wie geht man mit Alkohol und Alkoholkonsum und derlei mehr um?
Mir ist auch aufgefallen, dass das Album über Strecken recht düster ist. Es geht um Trennungen, einen Autountounfall, so ein allgemein definiertes Unwohlsein, aber das letzte Lied ist dann doch wieder sehr positiv. Wolltet ihr die Hörer*innen dann nicht ganz so zerstört zurücklassen?
Also so eine Dramaturgie sollte schon da sein. Und das letzte Lied ist eine absolute farbschillernde Hymne an die Liebe jeglicher Art. Aber ich glaube, wenn man ein bisschen zwischen den Zeilen liest, merkt man, dass die Liebe dann durchaus auch ihre gefahrvollen Seiten hat. Denn eigentlich arbeitet sie ja fast wie eine Gehirnwäsche. Also sie dreht dich um, sie schaltet dich stumm, sie setzt dich auf null. Das sind alles Eigenschaften, die der Liebe zugeschrieben werden. Und da möchte ich sagen: Das ist zumindest nicht ganz ungefährlich, diese manipulative Kraft. Ich glaube, dass braucht die Liebe als solche auch, um interessant zu sein. Also es ist nicht nur heiter, sondern hat auch eine gewisse destruktive Kraft, die aber gerade deshalb Interessant ist. Im Englischen sagt man ja nicht umsonst: To fall in love. Man fällt dann ja auch in so eine Art Schlund hinein, kann nichts dagegen tun und ist wehrlos. Und diesen Aspekt wollte ich auch schon herausheben.
Nach deinem ersten Buch „Aus dem Dachsbau“ und dem letzten Tocotronic-Album „Die Unendlichkeit“ ist „Nie wieder Krieg“ nun das dritte sehr biographisch dominierte Werk, an dem Du beteiligt bist. Sind wir jetzt mitten in so einer neuen Tocotronic-Phase der biographischen Aufarbeitung oder ist das schon abgeschlossen?
Das kann ich noch nicht sagen. Soweit kann ich nicht in die Zukunft blicken, aber das ist sehr schön erkannt und herausgearbeitet von dir. Tatsächlich hat mich autofiktionales und autobiographisches Schreiben und Lesen von anderen Leuten seit fünf, sechs Jahren enorm interessiert, muss ich sagen. Ich habe da in der Hinsicht auch selber viel von anderen Autorinnen und Autoren mit sehr großem Gewinn gelesen. Davor haben mich Erzählungen als solche überhaupt nicht interessiert und ich fast nur Theorie absorbiert habe, die auch so in die Songs eingeflossen sind, so als Inspirationsquelle oder Verwurstungsmaterial. Seit einiger Zeit sind das hauptsächlich autofiktional angehauchte Texte und das hat für mich nochmal so eine Tür aufgemacht.
Du hattest mal gesagt, dass ihr in dieser ganzen Karriere so zwischen Angst vor Vereinnahmung aber auch gefallen wollen pendelt. Stichwort Vereinnahmung: Was würdet ihr auf keinen Fall machen? Welche Promo-Idee zum Beispiel würdet ihr niemals umsetzen?
Das ist wirklich schwer zu beantworten, weil ich manchmal nicht mitbekomme, was es da draußen für Scheußlichkeiten gibt, die für uns nicht in Frage kommen. Ich muss natürlich auch dazu sagen: Es hat sich unsere Einstellung, aber auch die gesamte Musiksphäre, ziemlich gewandelt. Heutzutage ist man ja sehr froh, wenn man Aufmerksamkeit hat und eine Möglichkeit, seine Musik irgendwo unterzubringen, weil es nicht mehr so viele Formate gibt. In den 90er Jahren und noch teilweise bis in die Nullerjahre hinein gab es Viva, Viva II, MTV und VH1 und was weiß ich noch alles, über die man auch diskutieren konnte. Wir haben ja auch mal diesen Viva-Preis Comet in der Sparte „Jung, Deutsch und auf den Weg nach oben“ aus genau diesen Gründen abgelehnt. Solche Fragen stellt sich heute gar nicht mehr. Und für vieles, wo ich nicht vorkommen möchte, würden wir auch nie gefragt werden. Die Musik hat sich auch sehr gewandelt. Ich denke da an irgendwelche Fernsehshows, von deren Existenz ich gar nicht weiß. Da müsstest du mir jetzt auf die Sprünge helfen. Ich kenn mich da zu wenig aus. „Sing meinen Song“ oder so. Dass man so eine Abneigung entwickelt, hat ja auch viel mit einem selber zu tun und mit den eigenen Ängsten zu tun. Wir hatten früher erbitterte Diskussionen zwischen uns selbst, aber auch mit unseren Managements und Plattenfirmen geführt, wo man hingeht und wo nicht und wem man ein Interview gibt und wem nicht. Mittlerweile gibt es immer noch Medien, mit denen wir nicht sprechen. Aber man darf nicht vergessen, wir finden hauptsächlich im Printbereich statt und da ist nicht mehr so wahnsinnig viel übrig. Da wirkt die Verweigerungshaltung, die man sich mal auf die Fahnen geschrieben hat, so ein bisschen kokett. Im Fernsehen waren wir jetzt bei Böhmermann im ZDF Magazin. Das fand ich super, dort zu sein. Ich fand auch die Sendung super. Wir waren mit „Ich tauche auf“ bei Inas Nacht und auch da muss ich sagen: Das ist jetzt keine Sendung, die ich mir persönlich dauernd reinziehen würde, aber das ist ein sehr guter Rahmen für Livemusik. Und das gibt’s nicht so oft im Fernsehen. Manchmal gibt’s auch Anfragen, sich Parteipolitisch zu engagieren, gerade jetzt zur Bundestagswahl und das ist etwas, was ich nicht machen möchte. NGOs und ähnliches liegend gerne, aber nicht für bestimmte Parteien zur Wahl. Das wäre was, was wir alle nicht machen würde.
Interview von Philipp
Bandfotos von Gloria Endres de Oliveira