Saskia von Schrottgrenze im Interview

Heute geht mir ganz schön das Herz auf, denn ich konnte endlich einige sehr wichtige Fragen an Saskia von Schrottgrenze stellen. Ihr solltet euch keine einzige Zeile dieses Interviews durch die Lappen gehen lassen, denn hier steckt so viel drin, von dem ich mir einfach noch viel viel mehr wünsche! Auf geht’s:

Hallo Saskia, ewig wollte ich schon mal mit dir für meine Interview-Reihe sprechen, jetzt geht auch für mich ein kleiner Wunsch in Erfüllung. Fühlst du dich wohl im Rahmen dieser Reihe interviewt zu werden?

Hallo Chrissi! Ich danke Dir. Ich freue mich sehr über deine Anfrage und fühle mich sehr wohl hier.

Vielleicht kannst du uns zu Beginn etwas über deine musikalische Sozialisation erzählen, hast du außer bei Schrottgrenze auch noch andere Projekte gehabt oder jetzt aktuell sogar?

Ich spiele Schlagzeug, Gitarre und singe und mache seit Mitte der 1990er in vielen verschiedenen Musikprojekten mit. Schrottgrenze ist meine erste Band, die wir 1994 im Alter von 14 Jahren gegründet haben. Wir spielten in den frühen Jahren Punkrock und seit Mitte der 2000er Indie und Power-Pop. Ich spielte von 2008 – 2019 bei der inklusiven Experimental-Band Station 17 Schlagzeug und trommele seit 2009 bei Das Bierbeben. Außerdem lege ich im queerfeministischen Kollektiv Fe*male Treasure live häufig die Beats auf und bin gerne mal in einer queeren Drag Show zu sehen, z.B. mit dem Hamburger Kollektiv Drag Slot.

Copyright: Chantal Pahlsson-Giddings

Da kommt einiges zusammen! Spannend ist natürlich auch dein Coming-Out als Dragqueen in Verbindung mit der Schrottgrenze Reunion mit “Glitzer auf Beton” 2017 – haben sich für Schrottgrenze damit Werte verändert, für die ihr steht?

Nein, verändert haben sich meine Werte im Laufe meiner sehr langwierigen Emanzipation als nicht-binäre, pansexuelle Person. Die ging aber über mehrere Jahrzehnte und spielte auch in unserem Schrottgrenze-Freundeskreis immer eine Rolle. Von daher war „Glitzer auf Beton“ nach einer 7 Jahre langen Veröffentlichungspause der Band nur die erste LP auf der mit Songs wie z.B „Sterne“ erstmals queere Themen von uns zu hören waren.

Gestartet bin ich Anfang der 1990er als männlich sozialisierter Kid-Punk mit viel Selbsthass, Ängsten, unterdrückter Sexualität bzw. Genderexpression in der Niedersächsischen Provinz. Dem entsprechend waren meine ganz frühen Texte geprägt von unreflektiertem Humor, Sexismus und pubertären Aggressionen. Meine queeren Gefühle habe ich lange weggedrückt und ein Outing war im ländlichen Niedersachsen für mich absolut undenkbar. Die Auseinandersetzung mit Queer Theory, Feminismus, queerer Szene und engen Freund*innen hat mich dann ab Mitte der 2000er befähigt den Schritt dann doch zu gehen.

Hast du auch negative Erfahrungen mit deinem Coming-Out gemacht?

Die positiven Effekte überwiegen bei weitem. Meine Freund*innen haben mich sehr unterstützt. Es gab einige wenige Leute, die sich von mir eher still und leise distanziert haben. Aber das Verhältnis war vorher schon angeknackst. Ansonsten ist es in Bewerbungsprozessen auf dem Arbeitsmarkt nicht unbedingt von Vorteil, wenn Personaler*innen Drag-Fotos und Interviews von mir im Internet finden. Aber da ist auch immer die Frage, ob man für Arbeitgeber*innen arbeiten möchte, die queerfeindlich sind.

Was empfiehlst du Betroffenen, die auf Konzerten oder allgemein in der Szene auf toxische Männlichkeit stoßen?

Eine wichtige Frage, die sich nur situativ beantworten lässt. Mein wichtigster Tipp ist leider sehr defensiv: Achtet auf mögliche Gefahren und seid vorsichtig. Ich hatte in Drag leider viele Situationen, die ich mir lieber gespart hätte. Ich gehe nicht mehr in Großraumdiskotheken, fahre gestyled nicht mehr alleine U-Bahn und habe auch bei unseren Konzerten immer jemanden am Merchandise-Stand dabei, da ich da auch schon Probleme mit toxischen Grabbern hatte. Ich gehe am liebsten in Spaces wo ich weiß, dass dort eine Awareness-Security ist, fahre mit dem Taxi nach Hause oder bleibe in meiner Gruppe. Sofern ich die Situation als sicher einschätzen kann, konfrontiere ich toxische Männer mit ihrem Verhalten und versuche möglichst ruhig zu erklären, warum mich etwas stresst oder verletzt. Sad but true, 2021.

Fe male Treasure Kollektiv / Copyright: Katja Ruge

Schrottgrenze gibt es ja abgesehen von der Pause schon richtig lange, hattest du Vorbilder oder Role Models, an denen du dich orientiert hast? 

Ich finde sehr viele Musiker*innen sehr inspirierend – zum Beispiel Kim Gordon, Robert Smith, David Bowie, Laura Jane Grace, Grant Hart, Robert Pollard, Patti Smith, Siouxsie Sioux aber auch Prince, Whitney Houston oder Mariah Carey ;-). Ich orientiere mich generell sehr an Stimmen und da spielt der Role Model-Aspekt für mich vielleicht die größte Rolle. Ich versuche nicht den Gesang von Personen zu imitieren, aber mich interessiert sehr wie diese Musiker*innen ihre Stimme einsetzen und wie Gefühle und Texte transportiert werden. Looks gibt es viele, die ich toll finde, da lasse ich mich tagesaktuell von vielen Weiblichkeiten* und Freund*innen inspirieren.

Was denkst du sind die Gründe dafür, dass auf den Bühnen immer noch mehr Männer als Frauen* zu sehen sind?

Wir erleben die Folgen einer jahrzehntelang durchetablierten, strukturellen Benachteiligung von Frauen* im Musikbereich. Das beginnt bei der Vermittlung von Geschlechterrollenbildern im Kindesalter („Mädchen spielen kein Schlagzeug, Mädchen tanzen Ballet“) und endet in den Bookingentscheidungen vieler Festivals und Bühnen, die häufig maskulinistische, heterosexuelle Identitätspolitik in Reinform sind. (Ja, genau die Form von Politik, die Queerfeminist*innen ständig vorgeworfen wird, um strukturelle Ausgrenzungs- und Diskriminierungsprozesse zu überblenden!)

Offenbar resultiert daraus auch bei vielen Zuschauer*innen ein internalisiertes Desinteresse gegenüber feministischer und weiblicher* Kunst und Musik. Trans*- und Homofeindlichkeit verstehen sich in Deutschland ohnehin von selbst. Queere Personen haben bei der breiten Masse selten eine Chance, da sie keine Identifikationsangebote machen, die in der eher konservativ sozialisierten Mehrheitsgesellschaft resonieren. Weiße, Hetero-Cis-Männer sind die dominierenden „Singing Heads“, und wenn Frauen* oder LSBT*IAQ+-Acts gebucht werden, dann gewiss immer nur die, die nach Ansicht der Entscheider*innen wirklich „wirklich was draufhaben“ oder „doch schon viele Leute ziehen“. 

Ich frage mich manchmal, warum ich, während meiner studentischen Nebenjobs auf großen Festivals zig Konzerte von Mackern wie Bausa, 187 Strassenbande und auch zahlreichen entsprechenden Rockbands ertragen musste. Weder technisch noch atmosphärisch legen sich solche Acts groß ins Zeug. Sie machen aber Identifikationsangebote, die beim Publikum richtig gut ankommen und die ganz offensichtlich Ticketverkäufe garantieren. Und demnach gibt bei den Zuschauer*innen offenbar eine sehr wirksame Sehnsucht nach bollerigen Hetero-Cis-Männern mit wenig Taktgefühl sowie einem Minimum an Inhalten. Das ist maskulines Empowerment, das sich im Falle vieler Künstler ganz bewusst an der Abwertung von Weiblichkeiten*, Queers, Feminist*innen, kritischen Männlichkeiten* und nichtbinären Personen hochzieht oder konstituiert. 

Und sowas macht viele Leute happy. Dazu wird hier ausgelassen gefeiert und was letztlich aus den Boxen kommt ist vielen gar nicht so wichtig. Wichtig scheint zu sein, dass man von der Bühne aus in den Mosh Pit kommandiert wird oder die Polonaise anführen darf. Viele Veranstalter*innen dieser Festivals wissen um diese Sehnsüchte und bedienen sie ohne Rücksicht auf Verluste. Und dafür geraten sie auch zurecht und vermehrt in die Kritik. Richtig so!

Ich gehe gerne auf Festivals, die eine ausgewogenere Booking-Politik praktizieren und mehr Vielfalt in die Line Ups einladen, z.B. Off the radar, Fusion, Schiphorst, Best kept secret (NL), Kampnagel, save the scene, Yo! Sissy, Further Festival, viele Christopher Street Days sowie queere und autonome Räume. Unterstützt generell Veranstalter*innen, die sich bemühen, euch wirkliche Vielfalt zu bieten!

Drag Slot @ Fusion / Copyright: Maren Michaelis

Postpandemisches Szenario: Was hast du für die Zukunft geplant? Was würdest du dir für Veränderungen wünschen?

Eine AFD unter 5%, Entnazifizierung der Institutionen, weniger konservatives, neoliberales Gebramsel, Lohn- und Steuergerechtigkeit, Gleichstellung aller Geschlechter, sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung, eine solidarische Gesellschaft, mehr reale kritische Männlichkeiten*, Schutz von geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung im Grundgesetz, Erhalt von queeren und generell kulturellen Räumen, eine neue Guided by Voices-Platte, die mal wieder gut ist und vieles mehr!

Und was habt ihr mit Schrottgrenze für die Zukunft geplant?

Wir wollen zunächst mal wieder Konzerte spielen und Proben. Vielleicht gibt es im nächsten Jahr auch neue Musik von uns, aber das wissen wir jetzt noch nicht genau. Wir haben gerade einen schönen Remix für die Gruppe Shirley Holmes gemacht und ich durfte einige Features einsingen für Henri Jakobs oder FINNA. Es kommt also vieles auf Euch zu.

Copyright: Jens Meyer

Einmal selbst ein Line Up zusammenstellen – wer würde auf deiner Festival Bühne stehen?

Mein Wunsch-Festival (es werden mehrere Tage):

Kerosin95 / QueenWho / Babsi Tollwut / rauchen / Pestpocken / Henri Jakobs / Mariybu / Deutsche Laichen / Shirley Holmes / Petrol Girls / Klymaxx / 

Finna / Plaeikke / Faulenza / Big Joanie / Sayes / Ja, Panik / Friede Merz / Pansy Division / Mavi Phoenix / Rahsa / Messer / Neue deutsche Wahrheit / The toten Crackhuren im Kofferraum / One Mother / Ostberlin Androgyn / Ebow / Sukini / Lia Sahin / Nura / Sheila E. / Bat for lashes / Peaches / PJ Harvey / Patti Smith / Lauryn Hill (Acoustic-Set)

Experimental & Performance-Stage:
Kim Gordon / :zoviet*france / Datashock / Cosey Fanni Tutti / faUSt / troum / Merzbow / Die tödliche Doris (one night only) / Drag Slot / Station 17 

Literatur, Panels & Workshops:
Sibel Schick / Margarete Stokowski / Bell Hooks / Linus Volkmann / Veronika Kracher / Alice Hasters / Andreas Kemper / Sookee / Philipp Meinert / Felicia Ewert u.v.m. 

Aftershow-Residency: Paradise Hippies

Wow! Was ein Brett! Gibt es besondere Projekte, Bands, Labels, Kollektive oder sonst irgendwas, was du unseren Leser*innen empfehlen kannst? Willst du noch etwas loswerden, was bisher nicht zur Sprache kam?

Alle oben genannten Projekte, Bands, Kollektive, Künstler*innen und Autor*innen finde ich besonders und sehr empfehlenswert. Danke für deine Arbeit in dieser Rubrik!

Supportet queerfeministische Kämpfe!

Pls follow:

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https://littlewhirls.bandcamp.com/album/rearrange-the-comfort-zones-2 (Geheimtipp, schönes Album, me on vocals)

Copyright Titelbild: Chantal Pahlsson-Giddings