Gideon Botsch, Jan Raabe, Christoph Schulze (Hg.): Rechtsrock (Buch)
Das bisherige Standardwerk zum Thema Rechtsrock hat bereits einige Jahre auf dem Buckel. Es erschien 2002 unter dem Titel „RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien“ und ist neben „White Noise“ mit Schwerpunkt auf die Ursprünge in der britischen Neonazi-Szene wohl immer noch die beste Einführung ins Thema. Doch abgesehen von Thomas Kubans Undercover-Reportage „Blut muss fließen“ und einiger kleinerer Werke, die sich auf Subgenres oder bestimmte Regionen konzentrierten, gab es 17 Jahre lang wenig Grundlegendes zu neonazistischer Musik.
Gideon Botsch, Jan Raabe und Christoph Schulze haben das nun geändert und im Frühjahr 2019 „Rechtsrock. Aufstieg und Wandel neonazistischer Jugendkultur am Beispiel Brandenburgs“ im be.bra wissenschaft verlag vorgelegt. Auf über 400 Seiten umfasst es neben Einleitung und einer umfassenden Diskographie der brandenburgischen Rechtsrockszene 13 überwiegend akademisch Beiträge von 18 Autor*innen.
Der Zeitpunkt konnte kaum besser gewählt werden. Derzeit erleben wir eine Renaissance des Rechtsrocks in der öffentlichen Berichterstattung. Natürlich war der Nazirock zwischenzeitlich nicht weg. Die Geschäfte und Konzerten liefen weniger beachtet von der Öffentlichkeit munter weiter. Der öffentliche Diskurs verschob sich jedoch in den letzten Jahren auf Diskussionen auf rechtes und reaktionäres Denken im popkulturellen Mainstream. Frei.Wild und Kollegah statt Lunikoff und Sturmwehr. Aber nun sind die, die nie weg waren, wieder da auf den ostdeutschen Äckern in Themar und Ostritz und die Fernsehkameras, die stundenlang hässliche Menschen in hässlichen T-Shirts beim Einlass abfilmen, ebenso.
Beim jüngsten Rechtsrock-Buch handelt es sich wie 2002 erneut um einen Sammelband. Zum Schicksal dieser Buchgattung gehört es, dass in den seltensten Fällen alle Beiträge gleich gut gelungen sind. Auch hier gibt es einige Unterschiede, wobei gute bis sehr gute Beiträge dominieren.
Nach einem umfassenden allgemeinen Text über die deutsche Rechtsrockszene von Jan Raabe beschreibt Christoph Schulze akribisch und detailreich die brandenburgische Rechtsrockszene von den Achtzigern bis heute. Ja, den Achtzigern. Auch in der DDR gab es neben den Brutalen Haien mindestens noch eine Rechtsrockband namens Hammerschlag, die bereits Mitte der Achtziger gegründet wurde und allein durch ihre frühes Auftauchen in Teilen „Kult“ ist. Die Bedeutung von Brandenburg für die Rechtsrockszene wird im Beitrag deutlich herausgearbeitet, die wichtigsten Akteur*innen vorgestellt und dargestellt, wie durch langes Wegschauen, durch aktives Unterstützen („akzeptierende Sozialarbeit“) und durch tatkräftige Unterstützung des Verfassungsschutzes in den Neunzigern das Rechtsrock-Netzwerk in Brandenburg überhaupt so kräftig erblühen konnte. Streckenweise ist der Text trotz des Themas sogar unterhaltsam, wenn dokumentiert wird, wie häufig Rechtsrock-Konzerte in Schlägereien zwischen den Nazis untereinander enden. Vertiefend zum Einleitungstext liefern die beiden Anschlusstexte über die neonazistischen Netzwerke Blood & Honour und Hammerskins von Michael Weiss sowie Gideon Botschs Text über V-Männer und den Verfassungsschutz weitere Einblicke. Besonders letzterer hat den Rezensenten in seiner Meinung bestärkt: Der sog. „Verfassungsschutz“ muss aufgelöst werden.
Besondere Aufmerksamkeit verdient auch der Text von Thorsten Hinrichs über die problematische und oft vorgetragene Behauptung, rechte Musik sei eine „Einstiegsdroge“ in die Szene. Hinrichs legt überzeugend dar, warum dieser auch von Antifaschist*innen häufig gebrauchte Begriff problematisch ist. Gewinnend zu lesen sind auch die Beiträge über die Übernahme von NS-Texten im heutigen Rechtsrock von Karin Stoverock, die antisemitischen Bilder von Juden von Laura Schenderlein sowie die Studie über das Frauenbild in Rechtsrock-Texten von Sonja Brasch, Frauke Büttner, Jana Reich und Johanna Sigl.
Etwas schwach auf empirischer Ebene sind hingegen die Beiträge über die Bedeutung der Bekleidungsmarke Thor Steinar sowie die Diskussion um rechte Bands und Fans beim Brandenburgischen Black Metal-Festival „Under-The-Black-Sun“, welches als Grauzonen-Festival gilt. Bei ersterem Beitrag ist der Erkenntnisgewinn durch die Interviews mit Berliner Berufsschülern scheinbar nicht so hoch, wie es sich die Verfasserinnen Annett Gräfe-Deutsch und Cynthia Miller-Idriss über die rechte Klamottenmarkte wohl versprochen haben. Bei der Diskussion um das „Under-The-Black-Sun“ hätte Nikolai Okunew noch ein paar andere Zeugen anstatt nur den Veranstalter des Festivals (durchaus kritisch) befragen können. Und der Beitrag von Maica Vierkant über die Bildwelten von Rechtsrock-Albencovern ist zwar hochinteressant, aber ein paar mehr der oft ausführlich beschriebenen Bilder zur Illustration wären wünschenswert gewesen. Und ein Problem, das sich durch den gesamten Sammelband zieht: Die Brandenburg-Spezifika wird an einigen Stellen nicht ganz deutlich. Oder anders formuliert: Ist dieses oder jenes Phänomen in der brandenburgischen Rechtsrock-Szene anders als beispielsweise in Sachsen oder Bayern oder ist es allgemeingültig?
Dennoch ist „Rechtsrock“ ein wichtiges Buch über die Lebens- und Erlebniswelt neonazistischer Musik, welches ein lange nicht mehr bestelltes Feld bearbeitet und liefert neben umfassenden Hintergründen auch Anregungen zu Gegenstrategien.
Botsch, Gideon / Raabe, Jan / Schulze, Christian (Hg):
Rechtsrock. Aufstieg und Wandel Neonazistischer Jugendkultur am Beispiel
Brandenburgs.
be.bra wissenschaft verlag
430 Seiten
22 Euro