100 Kilo Herz Interview
Rücksichtsvoller Mittelfinger
Die Band im Interview mit Karsten Kriesel:
„Die braveren Feine Sahne Fischfilet“ habe ich 100 Kilo Herz vor einigen Jahren in meinem ersten Text über sie genannt. Völlig zurecht haben sie mir das übel genommen. Denn bis auf die Schnittmenge „Punk mit Bläsern, kein Ska!“ haben die Sechs aus Leipzig schon früh ihren eigenen Status behauptet. Prollfreie, emotionale Texte, eingängige Melodien, gleich das zweite Album in den Top 20, ein eigenes Open Air. 100 Kilo Herz haben sich in den letzten Jahren im gesamten deutschsprachigen Raum eine große Fangemeinde erspielt. Inzwischen bin ich den Proberaumkollegen von Soko Linx häufiger über den Weg gelaufen und wir können über die alte Frotzelei lachen. In gemütlicher Gartenrunde haben wir uns Ende Juli über ihr neues Album „Zurück nach Hause“ (Platz 16 in Charts dieses Mal) unterhalten, über Meilen- und Stolpersteine der letzten Jahre, Rücksicht und Provokation.
Der gerade über die Bandseiten veröffentlichte größte Einschnitt der Bandgeschichte, der kommende Ausstieg von Sänger, Texter und Bassist Rodi war zum Interviewzeitpunkt noch nicht bekannt. Insofern dürfte dies eines der letzten Interviews in der bisherigen Bandkonstellation sein.
Karsten: Ihr habt als Band 2015 begonnen, bis zum ersten Konzert hat es fast ein Jahr gedauert, warum?
Rodi: Wir haben uns bewusst Zeit gelassen. Wir hatten alle vorher schon in Bands gespielt und uns gedacht, jetzt probieren wir es nochmal richtig. Deshalb hatten wir zu unserem ersten Konzert schon eine EP, da konnten wir den Leuten gleich unsere Musik mit in die Hand drücken.
Karsten: Ab wann habt Ihr gemerkt, das kann etwas werden?
Marco: Bei der ersten Probe. Da ist schon der Song „Die Guten“ entstanden. Da war ich direkt ehrfürchtig und dachte, das könnte was werden.
Falk: Der Song ist ja bis heute der Opener für jede Show!
Rodi: Für mich war das Wohnzimmerkonzert in Leipzig der Moment, an dem ich gemerkt habe, hier ist etwas krass anders als bei den Musikprojekten vorher. Ab der ersten Sekunde hat der komplette Raum alles mitgesungen, auch alle Bläser!
Falk: Es ist so ein Moment, wo du feststellst, nicht nur wir finden es geil, sondern auch die Leute. Da schwappt etwas über.
Karsten: Inzwischen seid Ihr im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt, was waren denn so Meilensteine der letzten acht Jahre?
Marco: Sicher das erste Mal im Felsenkeller zum „Teenage Warning“ Festival. Da waren wir noch relativ früh dran, aber ich habe schon gedacht: Wow, so eine große Bühne, so viele Leute.
Rodi: Das war ja erst der fünfte oder sechste Gig.
Falk: Und dann drei Jahre später auf der selben Bühne recht spät direkt vor Dog Eat Dog zum Sternburg Fest vor voller Hütte. Das war schon krass.
Claas: Da gibt es noch Vergleichsfotos von derselben Stelle.
Falk: Es gibt schon so einige Meilensteine: Das erste Mal Haus Auensee mit Dritte Wahl. Rock am Kuhteich, SO36, die ersten größeren Festivals…
Marco: … die Parkbühnenkonzerte zu Corona 2020 und 2021, das zweite Album in den Top 20!
Claas: Wir waren die erste Punkband, abgesehen von unserem Support, die im Gewandhaus aufgetreten ist! Aber wir haben über die Jahre auch gespielt, gespielt, gespielt und es gab auch Konzerte, da waren drei Gäste: Entertaine die Mal! Das ist manchmal schwerer als tausend Leute, denn die drei musst du kriegen!
Karsten: Ihr selbst nennt Eure Musik „Brass Punk“, war das Anfang an ein musikalischer Plan?
Rodi: Die ursprüngliche Idee war mal „Skatepunk mit Bläsern.“ Aber wir konnten alle keinen vernünftigen Skatepunk spielen.
Marco: Das hat sich im Proberaum gefügt, wir hatten noch kein fertiges Konzept.
Claas: Wir sind einfach verschiedene Charaktere in dieser Band und jeder hat seine eigenen musikalischen Ideen, zusammen wird daraus am Ende 100 Kilo Herz.
Da musst du aber auch damit leben können, dass deine Idee im Proberaum komplett zerlegt wird, am Ende klingt ein Song vielleicht ganz anders als das erste Demo. Aber dadurch wird es lebendig.
Karsten: Wie entstehen Songs bei Euch?
Rodi: Marco bringt 40 Demos mit, wir finden 30 davon Kacke, dann schauen wir uns die anderen 10 an und daraus entstehen dann drei Songs. (alle lachen) Ich nehme die Sachen dann mit und im Idealfall habe ich noch irgendwo einen Text, der darauf passt. Ansonsten gehe ich zwei Stunden mit dem Demo spazieren, bis mir was einfällt.
Karsten: Deine Texte haben immer einen emotionalen Zugang. Wie sehr kann man sich im Entstehen in sein Herzblut reinreden lassen?
Rodi: Inhaltlich habe ich einen Menschen, der auf eventuell diskriminierende Sprache kuckt oder andere fragwürdige Muster. Ich lasse mir von Leuten Rückmeldung geben, die mich zu gewissen Texten inspirieren, zum Beispiel die Freundin, um die es in ‘2694 Tage‘ geht. Die Texte sind also, bevor sie im Proberaum landen, meist schon durch zwei drei Hände gegangen. Und dann muss man es natürlich auf die Musik kriegen.
Karsten: Bestimmte Themen, etwa Ansagen gegen rechts, tauchen immer wieder bei Euch auf. Keine Angst vor Wiederholung?
Rodi: Es passiert ja immer etwas Neues in der Welt und selbst, wenn man sich wiederholt, macht es das Thema ja nicht unwichtiger. Es gibt einfach genug zu erzählen.
Und inzwischen bin ich bei den Texten glaube ich konkreter geworden. Das erste Album war viel Verarbeitung von Jugendstress mit Nazis und so und jetzt geht es mehr ins große Bild.
Karsten: Könntet Ihr noch mehr Entwicklung zwischen den Alben benennen?
Claas: Ich habe das Gefühl, dass wir mehr Profil fassen und unseren Weg finden.
Falk: Einerseits haben wir die Basis, auf der unsere Songs entstehen, schon immer. Aber eine Konstante ist auch der Mut, immer Neues zu probieren, neues zu lernen. Schauen, wie ein Song so oder so klingen kann. Die letzte Platten sollte dreckig sein. Die neue jetzt sollte auch Dreck haben aber mehr drücken, fetter produziert klingen. Manchmal mussten wir dem Produzenten da aber den Zahn ziehen, der hätte es an manchen Stellen gern noch poppiger gehabt.
Karsten: Viele Songs wirken jetzt kompakter und arbeiten nicht mehr auf den großen Hymnen-Refrain hin, wo live alle mitsingen.
Falk: Du machst ja nicht die Musik dafür. Es ist ja von uns nicht gescriptet, dass zum Beispiel live bei dem Song das oder das passieren wird.
Claas: Das war auch vorher nie der Plan, wenn dann ist es bei ein paar Songs so gewachsen.
Rodi: Ich habe im Studio bei zwei Liedern überlegt, ob man da noch irgendwelche Mitgröl-Woohoos reinmachen kann und dann sagte Claas, ‚Die Woohoos machen bei uns die Bläser.‘
Karsten: Ihr habt schon früh den möglichst professionellen Weg gewählt, wie schnell muss man da mit Kompromissen leben?
Marco: Immer wieder und viel zu oft.
Claas: Da wir das nicht hauptberuflich machen hast du diesen Schwitzkasten immer wieder.
Marco: Es fehlt oft die Zeit, die wir gern hätten. Aber es hat auch den Vorteil, dass du nicht den Zwang hast, irgendetwas zu müssen. Wir haben die Möglichkeit, das, was wir mit der Band verdienen, wieder in die Band zu stecken. Zum Beispiel indem wir die Herbsttour technisch etwas größer angehen.
Rodi: Und selbst da gibt es Gespräche und Kompromisse, weil wir und die Vorlieben und Ansprüche an so eine Produktion unterschiedlich sind.
Claas: Es gibt aber auch klar den Anspruch: Wir fahren zum Teil weite Strecken, da soll am Ende immerhin eine geile Show bei rauskommen. Für uns und jeden, der Geld bezahlt, um unsere Musik zu sehen. Das spornt uns an und schickt uns immer wieder in die Selbstreflektion.
Karsten: Die Musikbranche kämpft seit ein paar Jahren mit massiven Preissteigerungen, alles wird teurer. Wie geht Ihr damit um?
Marco: Bei den Tonträgern sind wir glaube ich noch auf einem sehr humanen Level. Auch unser Label stützt da das Understatement. Aber das Dreck & Glitzer kostet dieses Jahr auch schon über 35 €, damit sich das rechnet, weil alle Kosten extrem gestiegen sind.
Nacholshows, für die noch vor Corona-Konditionen vereinbart waren, da zahlt man selbst zum Teil drauf.
Falk: Natürlich fragen wir uns bei Ticket-, Vinyl- oder Merchpreisen ganz oft, was wären wir selber bereit dafür auszugeben, wo sind unsere Grenzen? Diesen Blick, diesen Spagat sollte man für sich beibehalten. Dann versuchen wir, möglichst alles lokal in Leipzig produzieren zu lassen, um keine unnötigen Transportwege zu haben.
Claas: Trotzdem sind wir an Punkten angelangt, wo das nicht spurlos an uns vorüber geht und wir Preise anheben müssen.
Karsten: Was waren denn auf Eurem Weg eher Stolpersteine?
Marco: Da gab es mehrere.
Claas: Schon allein, weil wir alle verschiedene Menschen sind und jeder für sich auf ein gewisses, extrovertierte Weise auch Rampensau-Feeling hat, was jeder anders versteht. Da kommt es natürlich mal zu Streit und wir versuchen, alles grunddemokratisch auszudiskutieren. Das tut manchmal weh und raubt Zeit, aber trotzdem ist es ein Weg, der wichtig ist. Der Outcall unseres ehemaligen Gitarristen mit anschließender Besetzungsänderung ist ein gutes Beispiel, wie es im gemeinsamen Austausch dann mal nicht funktioniert hat.
Karsten: Ihr habt Euch 2021 von eurem Gitarristen wegen sexistischem Fehlverhalten getrennt. Eigentlich dachtet Ihr, die Sache wäre damit erledigt, ihr könntet das unter Euch ausmachen. 2022 ist das über Instagram durch andere öffentlich geworden, seitdem geht ihr sehr transparent und offensiv damit um.
Claas: Das war so ein Prozess, den wir alle durchmachen mussten, zu checken, dass du eine gewissen Einfluss auf andere hast. Das war uns bis dahin so nicht bewusst, wir haben ja nur Mucke gemacht und uns gefreut, wie viele das höre wollten. Zu erkennen, dass du eine größere Verantwortung hast, daran mussten wir wachsen.
Karsten:Als klar war, das Thema ist in der Öffentlichkeit, ihr müsst damit umgehen, habt ihr da lange über das „Wie“ nachgedacht? Oder war die Flucht nach vorn unvermeidlich?
Marco: Uns war klar, dass wir offen und transparent damit umgehen werden. Aber das „wie“ wurde tatsächlich länger ausdiskutiert. Wir haben uns in diesem Zusammenhang ja verschiedentlich Meinungen eingeholt. Von diversen Freund*innen, Geschäftspartnern und eben von einer Diversity Agentur. Uns war dann schnell klar, dass wir – egal wie wir uns entscheiden – uns komplett angreifbar machen. Man kann bei diesem sensiblen Thema nicht zu 100% alles richtig machen, aber wir können aufrichtig unsere Sicht der Dinge darstellen und offen damit umgehen. Das haben wir versucht.
Karsten:Euer Umgang mit dem Thema wird in vielen Teilen der Szene oft – gerade im Vergleich zu anderen Bands – als vorbildlich gelobt. Es gab aber auch Stimmen, die Euch da zu „penetrant“ fanden, zu sehr auf „jetzt machen wir alles richtig und erzählen davon“, wo auch noch parallel ein neues Album anrollt. Könnt ihr mit dem hohen Lob wie mit der Kritik etwas anfangen?
Marco: Wir haben beides wahrgenommen, aber versucht unseren Weg durch das Minenfeld zu finden.
Karsten:„Eure Story“ oder Sexismus allgemein ist auf dem Album jetzt aber kein spezielles Thema. Gab es Überlegungen, sich dem musikalisch noch mal zu nähern?
Marco: Wir hatten einen Song zu unserer Story, der hat es aber im Voting nicht aufs Album geschafft. Es hätte sich meiner Meinung nach nicht richtig angefühlt.
Karsten: Es betrifft ja nicht nur Euch, sondern wird gerade immer mehr diskutiert. War sich da die Punkszene lange zu bequem?
Marco: Das fängt ja in der Szene gerade erst an, im Mainstream ist das noch nicht mal im Ansatz angekommen.
Falk: Dabei ist es längst überfällig. Denn diese sexistischen Strukturen und dunklen gibt es überall, in jedem Unternehmen, in der Schlagerbranche und natürlich auch im Punk.
Claas: Aber diese Strukturen wären langsam sichtbar, es ist ein langsamer Umbruch.
Falk: Man sieht halt mittlerweile den Handlungsbedarf.
Marco: Sieht den wirklich jeder?
Rodi: Den sieht nicht jeder, aber den Leuten, die sich rücksichtsvoll verhalten und denen die die Missstände benennen, wird immer mehr zugehört, definitiv aber noch nicht an jeder Stelle.
Claas: Aber du hast ja spezieller nach der Punkszene gefragt und was da noch zu tun ist…
Karsten: Für mich ist es der Lernprozess und das Reflektieren darüber, dass sich die Punkszene einerseits ja so gleichberechtigt gibt und wir aber feststellen mussen, dass es da genauso beschissene Strukturen gibt. Einerseits. Andererseits gerade hier aber immerhin auch ein ordentliches Thema ist. Nicht, dass da alles sofort super ist. Aber auf Metalfestivals z.B. gibt es keine Sexismus-Vorträge…
Claas: Ja, wir erleben wir einfach zu oft gerade auf Festivals Situationen in einer Umgebung, wo man eigentlich denken sollte, dass da alle cool sind.
Falk: Dass man das in der Popszene hat, im Hip Hop, da brauchen wir noch gar nicht darüber reden. Deswegen ist das Thema im Punk aber gerade so dramatisch, weil es ja eigentlich die Szene sein sollte, wo man am fairsten miteinander umgeht. Deswegen sind da die Aufschreie so groß: Ich habe es von allen erwartet, aber nicht von euch! Weil da der eigene Anspruch mit der Realität auseinandergeht.
Claas: Es ist aber auch ein Trugschluss, dem wir selber auch erlegen sind: Wir sind doch cool, wir machen doch alles richtig. Die vorhandenen Strukturen, vor allem aber sich selber und sein Verhalten zu reflektieren, dass passiert auch in der Punk- und generell linken Szene noch viel zu wenig.
Falk: Es ist da eben nicht „alles Punk“. Ist T-Shirt ausziehen Punk? Ich weiß es nicht…
Marco: Da pöble ich mal provokativ die Gegenmeinung: Darf ich als Punk mein T-Shirt nicht mehr ausziehen, gibt es jetzt Regeln, an die ich mich als Punk halten muss?
Rodi: Du kannst das schon machen. Es haben sich aber mittlerweile genügend Leute dazu geäußert, was die Gründe sind, es nicht zu tun.
Claas: ich finde es aber auch viel zu einfach, das ganze Thema so an dieser einen Frage des T-Shirts hochzuziehen. Das ist ja Quatsch.
Rodi: Am Ende geht es größer um die individuelle Entscheidung, wie sich Menschen verhalten möchten: Empathisch, zuhören. Oder: Ist mir alles egal, für mich ist Punkrock Saufen und Party.
Claas: Saufen und Spaß haben gönne ich jedem, man muss nur schauen, ab wann und wie man anderen auf die Füße tritt.
Karsten: Ihr seid eine Band, die immer wieder damit auffällt, dass ihr Euch sehr nett und zugänglich gebt, da ist jetzt wenig der klassische Pöbel-Mittelfinger. Ist das umfassend Rücksichtsvolle die neue Provokation, wo sich viele in ihrer egoistischen Luxus-„Freiheit“ beschränkt sehen?
Rodi: Ich möchte einfach möglichst diskriminierungsfrei durchs Leben gehen.
Falk: So sind wir eben. Ich habe nicht den Anspruch groß zu provozieren.
Marco: Mein Credo ist: Meine Freiheit hört da auf, wo sie die Freiheit eines anderen einschränkt.
Rodi: Ich würde schon gern viel öfter den Mittelfinger zeigen, aber ich muss ja auf der Bühne Bass spielen.
Claas: Wir würden insgesamt gern mehr als ein großes „Wir“ auftreten als nur ein „Dagegen“. Doch wenn man mit Rücksicht und inklusiv sein jemandem auf den Fuß treten kann, ist das doch super.