Jan Müller – Rasmus Engler: Vorglühen (Roman)

Wie schreibt man überhaupt gemeinsam einen Roman? Bei einem Sachbuch kann man sich die Kapitel aufteilen, bei einer Biographie schreibt meist ein Journalist*in auf, was ein Promi erzählt. Aber ein Roman?

Rasmus Engler, Musiker bei Herrenmagazin und Kulturarbeiter im Hamburger Uebel & Gefährlich, und Jan Müller, Bassist bei Tocotronic und Macher des aktuell besten deutschen Musikpodcast Reflektor, haben das in jedem Fall gemacht. Angesiedelt ist die Geschichte im Hamburg Mitte der Neunziger. Im Zentrum steht Albert Bremer, der soeben aus dem verschlafenen oberbergischen Wehl ins große Hamburg gezogen ist, um alibimäßig sein Germanistik-Studium aufzunehmen, tatsächlich aber natürlich, um endlich sein Leben zu beginnen. Dazu muss man wissen, dass „man“ zu diesem Zeitpunkt gerade eher selten nach Berlin, sondern Hamburg der Sehnsuchtsort mehr ein Ort für kulturinteressierte Lebensbeginner war.

Rockmusikfreund Albert findet schnell Gleichgesinnte. Nach einem Konzertbesuch mit reichlich Alkoholausschank stellt er am nächsten Tag überrascht fest, dass er offenbar nun auch noch in einer Indieband spielt. Neben der Entscheidung, seine kleine ordentliche Wohnung im langweiligen Barmbeck einfach nicht zu bewohnen und stattdessen in eine kakerlakenverseuchte WG in der Talstraße ohne Klingel nahe der Reeperbahn zu seinen neuen Freunden zu ziehen, mit das Beste, was er machen konnte. Mit ihm kommt die Band nach vorne, der erste Auftritt wird absolviert und ein verkrachter Regisseur dreht sogar ein echtes Musikvideo mit der weiterhin namenlosen Kapelle. Als zunehmend offensichtlich wird, dass Albert mehr Talent im Liederschreiben hat als die Stammbesetzung, gefällt das aber nicht allen Mitmusikern und sorgt für Spannungen.

Das war es auch schon weitestgehend auf fast 400 Seiten Roman, abgesehen von der obligatorischen Liebesgeschichte mit der rätselhaften Comicverkäuferin Diana. Der Haupthandlungsstrang des Romanes ist unspektakulär gehalten, der Schauplatz überschaubar und trotzdem sprüht es überall vor Ideen. Das liegt vor allem an dem Panoptikum schräger Figuren, die unentwegt in „Vorglühen“ aufmarschieren. Punks, St. Pauli-Milieuvolk, Großstadtbohème und solche, die sich dafür halten, überraschen in einer Tour mit aberwitzigen und ebenso unterhaltsamen geschäftlichen und kreativen (Fehl-)Entscheidungen. Sie sind dabei oft spleenig und wild, aber nie überzeichnet. Man erkennt beim Lesen oft selbst irgendeine Person aus dem Bekanntenkreis, der oder die bestimmt auch sowas hätte bringen können. Mitunter sind sie auch sehr rührend, wie etwa die alte Nachbarin von Albert. Jan Müller und Rasmus Engler haben die Charaktere in ihrem Roman wirklich liebevoll und detailliert ausgearbeitet und aufeinander abgestimmt. Fast alle sind völlig planlose Chaoten, die sich selbst und andere immer wieder in die absurdesten Situationen bringen. Allem voran natürlich der junge Held des Romans selber.

Der Humor ist subtil gehalten, kommt oft eher in den in den Gedanken von Albert vor, die dieser sich unentwegt über alles macht. Oder er ist eben jenen rational nicht nachvollziehbaren Entscheidungen der Protagonist*innen geschuldet oder in eher beiläufigen Bemerkungen, falschen Namen, Gedanken zur Aussprache von Wörtern oder Grammatik etc.

Spaß bringt auch die „Zeitreise“ ins Hamburg der Mittneunziger. Obwohl alle ständig mit Quatsch beschäftigt und voller kreativer Ideen sind, ist hier alles doch noch entschleunigt. Die Digitalisierung erscheint gerade erst weit entfernt am Horizont und natürlich hat niemand ein Handy oder ein Smartphone. Wenn mal wieder eine Person tagelang verschwunden ist, ist das einfach so. Mit allen Konsequenten. Ich meine mich zu erinnern, dass auch das von Jan Müller geschätzte Entenhausen lange keine Handys zur Verfügung hatte, weil die meisten Geschichten dann sehr schnell mit den Geschichten durch wäre. Die Selbstvermarkung funktioniert noch über analog gedrehte Musikvideos auf VHS-Kassetten, schlechte Printflyer und die Hoffnung, dass ein Plattenboss zum Konzert erscheint. Ohne das zu romantisieren oder zu verklären, darf man sich davon im Buch mal einlullen lassen von einer Welt ohne 15-Sekunden-Videos auf TikTok und Instagram.

Das führt immer wieder dazu, dass man als Leser*in denkt: Ach ja, so war das ja damals. Angenehmerweise ist „Vorglühen“ dennoch nicht der große Retro- oder 90er-Roman und auch keine Zeitreise. Die Referenzen an die neunziger Jahre halten sich in Grenzen. Weite Teile der Geschichte könnten so heute noch genau so stattfinden. Noch immer werden junge Menschen vom Kaff in die große Stadt ziehen, um dort endlich als Erwachsene Erwachsenendinge zu tun, wie etwa Bands gründen, sehr dumme Entscheidungen treffen oder schlicht exzessiv feiern. Es ist alles wie heute, aber irgendwie auch anders.

Wer jetzt noch nicht weiß, was er in diesem Sommer am Hotelpool lesen möchte und auf kleine Großstadtgeschichten mit viel anarchistischem Spaß aus der jüngsten Vergangen steht, kann hier mal den Kauf erwägen.

Jan Müller – Rasmus Engler: Vorglühen
Ullstein
378 Seiten
21,99 Euro