Beziehungskrise – Ein Brief an Ian
Lieber Ian,
seit mehr als 40 Jahren haben wir eine Beziehung. Mit mehr Höhen als Tiefen. Und wie oft hast du mich in all den Jahren glücklich gemacht? Sehr oft! Dafür bin ich dir ewig dankbar.
In einer Beziehung sollte man sich ganz offen die Meinung sagen, wenn etwas nicht mehr stimmt. So habe ich es in der Paartherapie gelernt. Lieber Ian, das fällt mir jetzt wirklich nicht leicht: Du hast dich verändert und ich weiß nicht mehr, wie es mit uns weitergehen soll.
Ich habe immer zu dir aufgeschaut. Deine Prinzipien, deine DIY-Ethik, deine Treue zu alten Weggefährten und all die schlauen Sachen, die du so gesagt und getan hast. Da warst du mir Vorbild. Auch in Geschäftsdingen. Du hast bewiesen, dass man mit seiner Band ein Riese werden kann, ohne alte Ideale und Ideen zu verraten, ohne das Spiel der Anderen zu spielen. Und du warst sehr großzügig, denn du hast die Platten- und Eintrittspreise immer niedrig gehalten und vor nicht all zu langer Zeit dein gesamtes Labelprogramm auf bandcamp gestellt.
Ich – und beileibe nicht nur ich – haben dich auf einen Sockel gestellt und da hättest du stehen können bis zum Ende deiner Tage. Doch dann hattest du die Idee mit der Dischord Jubiläums-Single-Box und seitdem verstehe ich dich nicht mehr und sitze hier mit einem ganzen Sack voller Fragen.
Warum musste es denn altes Zeug zum Jubiläum sein? Und warum überhaupt ein Jubiläum? Ein unspektakulärer Prog- oder Krautrockversuch alter Buddies hätte es doch auch als Nummer 200 getan. Das wäre vielleicht fast geräuschlos über die Bühne gegangen, aber es hätte zu dem gepasst, was du immer propagiert hast: Die Musik der Szene/ Freunde dokumentieren und verfügbar machen.
Musste es unbedingt Crowdfunding für die bombensichere Nummer mit den alten 7-inches sein? Du hast dir das Geld im Voraus schicken lassen, geguckt wieviel zusammen kommt und dann erst die Platten pressen lassen. Tolle Methode, um neue Geschäftsideen oder teure Projekte zu finanzieren, von denen man nicht weiß, ob sie was werden und das nötige Startkapital fehlt. Der Romantiker in mir hat da eine enthusiastische Horde vor Augen, die in stundenlanger Arbeit in einem winzigen Raum Boxen mit neuer, aufregender Musik konfektioniert und dabei darauf hofft, dass alles gut gehen wird. Du aber hättest die Kohle im Voraus eigentlich nicht gebraucht, oder? Es war doch klar, dass das Zeug wie geschnitten Brot weggehen würde. Mir gingen kurz die Worte “cleverer Geschäftsmann” durch den Kopf und für diese Zuschreibung schäme ich mich tatsächlich ein wenig.
Und was ist mit den alten Weggefährten Plattenläden und Mailorder? Ich kenne da zum Beispiel einen Typen in Süddeutschland, der seit Jahrzehnten Dischord-Platten verkauft. Nicht nur die Klassiker, sondern auch all die anderen Sachen, die später nicht mehr so viele Leute interessiert haben. Der hätte sich vielleicht über einen Schwung Boxen gefreut und so auch ein kleines Stück vom Kuchen bekommen. Stattdessen wurde der große Kuchen in genau drei Stücke geteilt. Ein Stück fürs Presswerk, ein Stück für Dischord und das letzte Stück für die Post. Dieses Mailorder-only-Abwicklung-über-Presswerk-und-Logistiker-Ding hat mit “unserer Szene” und gegenseitigen Support herzlich wenig zu tun, oder?
Kurz hatte ich gehofft, dass du vielleicht nur einen lehrreichen Witz machen wolltest und wir dann gemeinsam über die Honks lachen würden, die die Box als Geldanlage gekauft haben, oder nur Stunden nach der Veröffentlichung ihren Schnitt auf Discogs machen wollten. Du hast es vielleicht schon selbst gesehen: “15 zum Verkauf ab 200 $.” Und es werden bestimmt noch mehr. Der Witz wäre so simpel gewesen. Limitierung am Arsch, einfach die Box ab und an nachpressen, den Kram dauerhaft verfügbar halten. So hast du es doch eigentlich immer gemacht und die Couponabschneider, die sonst bevorzugt am Recordstore Day auf die Jagd gehen, hätten in die Röhre geguckt. Laut Dischord-Seite wird daraus aber nix: “Considering how complicated this project has been, there are no plans to ever repress the boxset.” Was genau an der Veröffentlichung von alten Sachen, die auf dem eigenen Label erschienen sind, so besonders kompliziert sein soll, könntest du bei Gelegenheit erklären. Ich verstehe es nicht.
Lieber Ian, vielleicht denkst du jetzt, dass das ganz allein mein Problem ist, dass ich dich auf einen Sockel gehievt habe und vielleicht hat es dich irgendwann auch einfach nur noch genervt, dass man in den Resten unserer alten Szene “integer” in der Maßeinheit “Ians” misst? Ich kann das nur vermuten.
Ich wünsche mir jedenfalls, dass das mit der Box nur ein großer Irrtum gewesen ist und du auf deine alten Tage nicht doch noch zu einem schnöden Geschäftsmann geworden bist. Dann hätten die uns doch noch alle am Ende gekriegt. Du erinnerst dich bestimmt: “You call me up and talk about money.” So soll es bitte nicht enden.
Dein
Schippy