Anne Hahn/Frank Willmann: Satan, kannst du mir noch mal verzeihen (Buch)
Schleim-Keim sind mehr als nur eine ehemalige ostdeutsche Punkband. Bis heute sind sie für viele Menschen Synonym für Punk in der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik. Und die Band ist unmittelbar mit Gründer, Sänger und Mastermind Dieter „Otze“ Ehrlich verbunden. Die gesamtdeutsche Bedeutung von Otze kann man auch daran ablesen, dass er nicht nur eine eigene Biographie hat (also keine Autobiografie, die gefühlt jede*r Zweite irgendwann über sich selber schreibt), sondern diese auch inzwischen in der fünften Auflage erschienen ist, und zwar im Frühjahr bei Ventil.
Da der bereits 2005 verstorbene Otze logischerweise wenig bis auf Archivmaterial zu seinem 2008 erstmalig erschienenen Buch von Anne Hahn und Frank Willmann beitragen konnte, steuerten insgesamt 24 Zeitzeug*innen ihre höchst subjektive Meinung über Herrn Ehrlich bei. Von ehemaligen Bandmitgliedern über Ex-Freundinnen bis hin zu Jugendpfarrern (die Punks in der DDR häufig strukturell gegen den Staat unterstützten) kommt eine große Breite an Menschen zu Wort. Sie erzählen, wie sie Otze kennengelernt und welche Geschichten (positiv oder negativ) sie mit ihm verbinden. Themen sind immer wieder familiären Verhältnisse im Hause Ehrlich, sein durchaus vorhandenes musikalische sowie technisches Talent, Gewalt und Suff sowie die der durch allgemeine Verfügbarkeit härterer Drogen erfolgte Absturz nach dem Ende der DDR. Unter Strich kommt Otze dabei gut weg, jedoch oft auch als eine Person, die sehr auf ihren persönlichen Vorteil bedacht war, wie selbstverständlich andere beklaute und dann im Zweifelsfall keine Freunde kannte. Das ging so weit, dass Herr Ehrlich offenbar sogar seine Freundin einmal gegen Geld anbot. Andererseits zeigte er durchaus auch Gemeinschaftssinn, wenn seine Freunde von Außen angegriffen wurde und ging dann keiner Schlägerei aus dem Weg, um das Rudel zu verteidigen.
Nicht nur die Meinungen über Diether Ehrlich gehen im Buch stark auseinander. Auch einige Widersprüchlichkeiten tauchen immer wieder auf, wie zum Beispiel die Frage nach der Namensgebung und dem wahren Grund, warum Otze in den späten Neunzigern seinen Vater erschlagen hat. Offen ist auch die Frage, ob Dieter Ehrlich, der immerhin Lieder wie „Spione im Café“ sang, mit der Stasi kooperiert hat. Dies wird genau so rigoros von den einen bekräftigt wie von den anderen bestritten. „Kontakte“ gab es in jedem Fall, was auch nicht zwingend ungewöhnlich ist. Denn bekanntermaßen hatte die Staatssicherheit die Punks auf dem Kieker wie keine andere Subkultur. Wie weit diese gingen und welche Vorteile Otze daraus hatte, wird wohl ungeklärt bleiben. Hilfreich ist auf jeden Fall das zusammenfassende Kapitel von Anne Hahn, die den Kenntnisstand über Dieter „Otze“ Ehrlich noch einmal aufarbeitet, einordnet und zusammenfasst. Als kleines Bonus-Schmankerl gibt es dann auch noch das finale Interview mit Otze im Jahr 1998 sowie ein aktuelleres mit den ehemaligen Schleim-Keim-Mitgliedern Hagen und Lippe sowie Label-Mogul Höhnie.
Selbst im relativ großen Segment der DDR-Punkliteratur sticht „Satan, kannst du mir noch mal verzeihen“ mit seiner Herangehensweise, sich nur eine Person vorzuknöpfen und eine differenzierte Bewertung vorzunehmen, deutlich hervor. Sollte man gelesen haben, wenn man sich für eine spannende und widersprüchliche Biographie in der DDR-Punkszene interessiert.
Anne Hahn/Frank Willmann: Satan, kannst du mir noch mal
verzeihen. Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest. Erweiterte Neuauflage.
Ventil Verlag 2019
252 Seiten
15 Euro